Kapitel 2 Begegnung mit Mason
„Du …“
Als Emily das Gesicht sah, das Jasper und Chase so sehr ähnelte, verspürte sie einen Stich in der Brust.
Dieses Kind!
Das war ihr Kind!
„Wer zum Teufel bist du, dass du uns den Spaß verdirbst?“, schrie der ältere Junge arrogant.
Emily war außer sich. Sie war gerade erst nach Emerald City zurückgekehrt und wollte keinen Ärger machen, aber dieses Kind war eindeutig ihr lange verschollener Sohn.
Wie konnte sie es ertragen, jetzt mitansehen zu müssen, wie ihr Kind auf der Straße schikaniert wurde?
„Warum mobbt ihr ihn? Haben eure Eltern euch nichts beigebracht? Mit manchen Leuten legt man sich besser nicht an!“
In Emilys Augen blitzte es scharf auf. Sie stand auf, stellte sich den Kindern entgegen und krempelte die Ärmel hoch, als wäre sie bereit zu kämpfen.
Die Kinder waren von Emilys Erscheinung eingeschüchtert. Eines der jüngeren Kinder fing an zu weinen und rannte weg.
„Lauft!“
Die Kinder stoben auseinander. Emily, immer noch wütend, drehte sich um, um ihren Sohn zu suchen, aber er hatte sich bereits von ihr entfernt.
Der Junge stand zehn Schritte entfernt und beobachtete sie misstrauisch.
„Schätzchen, ich bin deine Mutter. Schau genau hin, sehen wir uns nicht ähnlich?“, machte Emily einen zögerlichen Schritt auf ihn zu.
Der Junge wich einen Schritt zurück, seine leuchtenden Augen waren voller Anspannung und Vorsicht.
Emily bemerkte, dass das linke Bein des Jungen verletzt zu sein schien, was ihn hinken ließ.
Ihr Herz zog sich vor Schmerz und Verwirrung zusammen.
Vor fünf Jahren hatte sie ihren ältesten Sohn widerwillig in die Wohnung dieses Mannes geschickt, in der Hoffnung, er würde sich gut um ihn kümmern.
Aber jetzt schien es, als sei ihr Kind nicht gut versorgt worden.
„Schätzchen, es tut mir leid. Warte einfach noch ein bisschen, ja? Ich werde dich holen“, sprach Emily sanft zu dem angespannten, wachsamen Jungen.
‚Mutter?‘
Für den kleinen Mason Thomas war „Mutter“ ein Wort, das sich sehr, sehr weit entfernt anfühlte.
Die Familie Thomas war eine bedeutende Größe in Emerald City mit zahlreichen Mitgliedern, und Mason war der Sohn von James Thomas, dem Oberhaupt der Familie.
Eigentlich hätte Mason alles haben sollen – Liebe, Aufmerksamkeit, das ganze Programm.
Aber in Wirklichkeit hatte er nie auch nur einen Hauch von Wärme gespürt.
Mason hatte Autismus und konnte als Kind nicht sprechen. Die anderen Kinder in der Familie machten sich über ihn lustig und nannten ihn „kleiner Stummer“. Vor zwei Monaten hatte er sich bei einem Unfall am linken Bein verletzt, und jetzt nannten sie ihn „kleiner Krüppel“.
Die Verwandten behandelten ihn, als wäre er unsichtbar, als wäre er eine Schande für die Familie Thomas.
James liebte ihn jedoch sehr. Egal wie beschäftigt er war, er nahm sich immer Zeit für Mason, kochte für ihn und verbrachte wertvolle Zeit mit ihm. Aber James war oft so beschäftigt, dass Mason manchmal hungrig einschlief, während er darauf wartete, dass sein Vater nach Hause kam.
Und James konnte als Mann die Rolle einer Mutter nicht ausfüllen. Obwohl Mason also etwas väterliche Liebe von James spürte, war er dennoch einsam.
Und jetzt behauptete diese fremde Frau, seine Mutter zu sein?
Sollte er ihr glauben?
Mason biss sich nervös auf die Lippe und blickte schüchtern auf das sanfte Lächeln auf Emilys Gesicht. Er dachte daran, wie Emily ihn gerade eben beschützend in den Armen gehalten hatte und er sich dabei so warm und sicher gefühlt hatte.
Ist die Umarmung einer Mutter immer so warm und tröstlich?
Könnte er, wie andere auch, die Liebe einer Mutter haben?
Aber James hatte ihm gesagt, er solle Fremden nicht so schnell vertrauen.
Bei diesem Gedanken wich Mason ein paar Schritte zurück, immer noch auf der Hut.
„Schätzchen?“
Emily blickte mit einer Mischung aus Herzschmerz und Hilflosigkeit in Masons wachsame Augen. Sie wusste, dass sie in diesem Moment etwas impulsiv gewesen war. Schließlich würde kein normaler Mensch einer Fremden glauben, die plötzlich auftaucht und behauptet, seine Mutter zu sein.
Ich hab’s!
Emilys Augen leuchteten auf und sie lächelte Mason sanft an.
„Warte mal kurz. Ich hole dir ein paar Spielkameraden, okay?“
‚Spielkameraden?‘
Mason verstand nicht. Er sah Emily mit einer Mischung aus Angst und Neugier an.
Emily holte ihr Handy heraus und tätigte einen Anruf. Bald kamen zwei coole und gut aussehende Jungen, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen, herüber.
„Mama!“
Chase rannte herbei und umarmte Emilys Bein.
Jasper folgte Chase leise, seine hellen, kühlen Augen musterten Mason neugierig.
Mason war wie erstarrt. Er blickte auf die beiden Jungen in ihren schicken Anzügen, die neben der Frau standen, und einer von ihnen nannte sie liebevoll „Mama“.
Also hatte diese Frau ihn angelogen.
Sie war nicht seine Mutter; sie war ihre Mutter.
Masons Nase kribbelte, er senkte den Kopf und umklammerte fest den Saum seines Hemdes, fühlte sich verloren und unsicher.
Emily warf einen Blick auf Mason, zog die beiden Jungen an sich und flüsterte ihnen etwas ins Ohr.
Einen Moment später gingen die beiden Jungen auf Mason zu.
„Hey, ich bin Chase und das ist mein Zwillingsbruder Jasper. Wie heißt du?“
Der lebhafte Chase war der Erste, der Masons kleine Hand ergriff und sich mit einem breiten Lächeln vorstellte.
Mason blinzelte die beiden Jungen vor sich mit seinen leuchtenden Augen an, presste die Lippen zusammen und sagte kein Wort.
„Hey, warum redest du nicht? Mama sagt, es ist höflich zu antworten, wenn jemand mit dir spricht“, sagte Chase mit einem erwachsenen Ton und schüttelte den Kopf.
Mason schwieg weiterhin.
‚Kann dieses Kind etwa nicht sprechen?‘ Emily erinnerte sich daran, wie die Kinder Mason vorhin verspottet hatten, und ihr Herz schmerzte noch mehr.
Sie ging hinüber und hockte sich hin, um Mason auf Augenhöhe zu begegnen.
„Kannst du schreiben?“, fragte Emily sanft.
Mason nickte.
„Warum schreibst du uns dann nicht deinen Namen, ja?“
Emily streckte Mason ihre Handfläche entgegen.
Mason blinzelte und streckte langsam seine dünne kleine Hand aus, um Buchstaben in Emilys Handfläche zu malen.
Emilys Augen weiteten sich, als sie die Narbe an Masons zierlichem Handgelenk sah, eine Brandwunde von einer Zigarette.
Gott! Was hatte ihr Sohn in den fünf Jahren, in denen sie getrennt waren, durchgemacht?
„Mason?“
Chase las laut vor und strahlte Mason dann an. „Dein Name ist wirklich schön.“
Masons Gesicht rötete sich leicht. Es war das erste Mal, dass er ein so direktes Kompliment erhalten hatte, und er spürte eine seltene Welle der Freude.
„Mason“, lächelte Emily und hielt sanft Masons kleine Hand. „Findest du nicht auch, dass du deinen beiden Brüdern sehr ähnlich siehst?“
